Sonntag, Februar 26, 2006

Ausnahmezustand

Eigentlich sollte man es wissen. Sollte klüger sein, sollte sich vorbereiten und dementsprechend handeln. Doch jedes Jahr aufs Neue ist man erstaunt, wobei das gelinde ausgedrückt, die Untertreibung schlechthin ist. Man ist konsterniert und zugleich etwas aufgebracht, vielleicht auch leicht gereizt und manch einer(inklusive LordLevi) wünscht sich Kiesingers Notstandsgesetze her.

Der geneigte Leser wird es erahnen, die Rede ist von der Fastnacht(die hierzulande von debilen Fastnächtlern ohne 't' geschrieben wird, also Fasnacht). Nach wie vor haben die Menschen in den katholischen Regionen der Schweiz, die notabene mal ganz pauschal als konservativ, engstirnig und fremdenfeindlich bezeichnet werden dürfen(mein kleinwüchsiger anatolischer Gotteskriegerfreund wird dies bestätigen) das inbrünstige Verlangen, sich zu verkleiden, alkoholisiert durch die Strassen zu ziehen und mehr torkelnd als schunkelnd, brutalster Instrumentalvergewaltigung(so genannter Guggenmusig) zu lauschen. Natürlich nicht ohne joviales Gegröle. Und weil sich’s verkleidet so leicht einrichten lässt, wird auch noch haltlos gebaggert, gegrabscht und schlimmeres, so weit das halt irgendwie möglich ist.

Das Resultat der unbändigen Ausgelassenheit präsentiert sich neun Monate später, was sich auch statistisch nachweisen lässt – analog zur Zahl der abrupt ansteigenden Seitensprünge(sollte es Kinder von Fastnächtlern unter meinen Lesern geben, ihnen sei empfohlen mal kritisch das Spiegelbild zu betrachten und vielleicht darüber nachzudenken woher der dunkle Teint wohl stammen mag, wo doch beide Elternteile eher Hellhäutig sind)

Nicht, dass ich jetzt falsch verstanden werde! Ich habe absolut nichts gegen Ausgelassenheit, ich bin sogar ein wahrer Freund der Ausgelassenheit, doch es widerstrebt mir zutiefst, mit all den Verstörten auf Festbänken zu hüpfen und mit DJ Ötzi „Hey Baby“ zu johlen. Und wenn ich sie dann sehe, die Familienväter, die als Krankenschwestern verkleidet 16 Jährigen Jungs Bier spendieren und dafür ein bisschen Körperwärme kriegen, alles unter dem Deckmantel der kumpelhaften Umarmung, die ja bei betrunkenen Männern zum guten Ton gehört, werde ich nachdenklich. Wie kann man bloss so scheinheilig durchs Leben gehen? Am Stammtisch des Turnvereins über Schwulenwitze lachen und heimlich vom Liebesspiel mit Brad Pitt am Sandstrand von Bora Bora träumen? Irgendwie krank, nicht?

Oder die ansonsten so frigiden, biederen alten Weiber, die dem hart schuftenden Ehemann nicht einmal orales Vergnügen gönnen(geschweige denn richtig ran lassen), werfen sich dem nächst Besten an den Hals und lassen sich in der Warteschlange des Imbissstandes stehend, befingern.

Wo ist da die so genannte Moral der Saubermänner, die während dem Rest des Jahres den armen LordLevi anglotzen, nur weil dieser sich etwas exzentrischer Kleidet? Wo sind sie geblieben, die verklemmten Innerschweizer, die mit kartierten Hemden ihre Lebensfreude zum Ausdruck bringen? Jeden Samstag ihren Opel wachsen und anschliessend den Rasen mähen? Wo sind sie geblieben, die Hausfrauen, die ihren Kleidungsstil mit „praktisch, bequem, unauffällig“ beschreiben? Man sucht sie vergebens, denn es ist ja Fastnacht – da darf es schon ein bisschen bunter sein. Ein bisschen wilder, ein bisschen mehr von allem, dafür hält man sich dann den Rest des Jahres zurück. Schliesslich ist man ja anständig und korrekt und zurückhaltend und würde niemals nie einfach so auf der Strasse ein Tänzchen wagen, weil einem gerade danach ist. Nein, nein, das spart man sich auf, bis Februar, was würden denn die Nachbarn denken? Also wirklich!